FIW-Spotlight: Das riskante geldpolitische Experiment der Türkei

Die türkische Wirtschaft hatte in den letzten Jahren mit einer rasanten Abwertung der Lira und einem starken Anstieg der Inflation zu kämpfen. Dies mag zwar den Schwierigkeiten der Schwellenländer in den 1990er Jahren ähneln und spiegelt zum Teil auch den Inflationsdruck wider, unter dem ganz Europa derzeit leidet, doch die zugrundeliegenden Mechanismen sind andere und größtenteils selbstverschuldet. Die jüngste wirtschaftliche Situation in der Türkei, dem sechstgrößten Handelspartner der EU mit einem Anteil von 3,3%, führt uns die Folgen einer falschen Geldpolitik eindringlich vor Augen.

Die Europäische Union bleibt trotz eines rückläufigen Trends in den letzten Jahren der größte Export- und Importpartner der Türkei (Abbildung 1). Zwischen 2018 und 2022 sank der Anteil der türkischen Exporte in die EU von 43,1 % auf 40,5 %, während der Anteil der Importe von 33,3 % auf 25,6 % zurückging. Österreich hat einen geringeren Anteil am Gesamthandel der Türkei: Der Exportanteil der Türkei nach Österreich blieb in den letzten Jahren relativ stabil bei rund 0,7 %, der Importanteil sank jedoch von 0,7 % im Jahr 2018 auf 0,5 % im Jahr 2022. Aus europäischer Sicht ist die Türkei mit 3,3 % der sechstwichtigste Handelspartner der EU. Der Anteil der Türkei am österreichischen Handel beträgt rund 0,7 % (inkl. Intra-EU-Handel).

In den letzten zehn Jahren sah sich die Türkei mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, darunter instabile Wachstumsraten, eine erhebliche Währungsabwertung und ein Anstieg der Inflation (Abbildung 2). In den letzten Jahren haben sich diese Probleme verschlimmert, was zum Teil auf externe Faktoren wie die COVID-19-Pandemie und den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist. Dies führte zu einem sehr unausgewogenen Wachstumsmuster und einer erheblichen Anhäufung potenzieller Risiken innerhalb des Wirtschaftssystems. Die unkonventionelle türkische Geldpolitik, die durch niedrige Zinssätze und eine starke Abhängigkeit von Krediten gekennzeichnet ist, hat wesentlich zur Verschärfung dieser Probleme beigetragen. Da sich Präsident Erdogan nun eine weitere Amtszeit gesichert hat, sind die Sorgen über die Ausrichtung der Geldpolitik größer denn je und stellen die künftige Stabilität der türkischen Wirtschaft in Frage.

Dabei ist es jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die wirtschaftliche Situation nicht immer so war. In den ersten zehn Jahren der Regierungszeit von Präsident Erdogan galten sowohl er als auch die AKP weithin als fähig, konservativ und umsichtig in ihrem wirtschaftspolitischen Ansatz. Doch ab Mitte der 2010er Jahre sah sich die Türkei mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Das politische Risiko nahm zu, etwa durch die Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 und dem Putschversuch im Jahr 2016. Zum Teil als Reaktion darauf begann die Regierung, die Kapazitäten und die Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen zu untergraben. 

Um dem wirtschaftlichen Abschwung in diesem Zeitraum entgegenzuwirken, ergriff die Regierung Maßnahmen wie umfangreiche Infrastrukturinvestitionen und niedrige Zinssätze, um die Kreditaufnahme im Inland zu fördern (Abbildung 3). Es entstand der Eindruck, dass die Zentralbank gezwungen war, die Zinssätze niedrig zu halten. Diese Maßnahmen führten jedoch zu steigender Inlandsnachfrage und Importen und somit zu erheblichen Handelsbilanzdefiziten. Das wiederum bedingte eine höhere ausländische Verschuldung und führte zu einer raschen Abwertung der Lira und einem Vertrauensverlust in die Geldpolitik, der durch längere Phasen negativer realer Zinssätze und zunehmendem Inflationsdruck ausgelöst wurde.

Das geldpolitische Experiment der Türkei als Heilmittel gegen Wachstumsverlangsamung und steigende Inflation

Die Unabhängigkeit der Zentralbank in der Türkei wurde in den letzten Jahren immer weiter zurückgenommen. Das Vorgehen von Präsident Erdogan zeigt, dass er nicht zögert, Zentralbanker und Finanzminister zu entlassen, wenn sie nicht seinen Wünschen entsprechen. Seit 2020 wurden drei Beamte ohne eine klare Erklärung aus ihren Ämtern entlassen, was zu Spekulationen führte, dass ihre Weigerung, die Zinssätze weiter zu senken, der Hauptgrund für die Entlassung gewesen sein könnte.[1] Präsident Erdogan ist der Ansicht, dass höhere Zinssätze die Ursache für steigende Preise sind, nicht aber ein Mittel dagegen. Er argumentiert, dass niedrige Zinsen die Verbraucherausgaben, die Investitionen der Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern werden. Er behauptet auch, dass eine schwächere türkische Lira gegenüber dem US-Dollar die Exporte erschwinglicher machen würde, was zu einer erhöhten Nachfrage seitens ausländischer Verbraucher führen würde.

An diesen Argumenten ist etwas Wahres dran. Die schwächere Lira scheint dem Exportwachstum in den letzten Jahren tatsächlich geholfen zu haben. Und die billigen Kredite haben sicherlich die Verbraucherausgaben gestützt. Doch diese Politik hat erhebliche Konsequenzen. Die Türkei ist in hohem Maße von Einfuhren wie Kraftstoff, Gas, Medikamenten, Düngemitteln und anderen Rohstoffen abhängig. Wenn der Wert der Lira sinkt, steigen die Kosten für den Kauf dieser importierten Waren. Darüber hinaus hat die unkonventionelle Geldpolitik von Präsident Erdogan bei ausländischen Investoren, die zuvor bereit waren, türkischen Unternehmen erhebliche Geldbeträge zu leihen, Bedenken geweckt. Darüber hinaus wird durch die Einführung des Lira-Sparplans „KKM“, einer staatlich unterstützten, währungsgesicherten Einlage, das Risiko von Wechselkursschwankungen auf den öffentlichen Sektor übertragen, was zu erheblichen Eventualverbindlichkeiten führt und ein Risiko für die inländische Finanzstabilität darstellt.

Anfang 2022, als die Zentralbanken in Europa und den Vereinigten Staaten begannen, ihre Geldpolitik zu straffen und die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, begann die türkische Zentralbank, ihre Zinssätze zu senken. Diese unkonventionelle Strategie hat zu einer starken Abwertung der Lira und zu immer höheren Inflationsraten geführt, wobei die jährliche Inflationsrate im Oktober 2022 mit über 85 % ein 24-Jahreshoch erreichte. Viele Analysten glauben, dass die tatsächliche Inflationsrate auf der Straße noch höher ist, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen.[2]

Um den Auswirkungen der steigenden Inflation zu begegnen, hat die türkische Regierung mehrere Maßnahmen ergriffen. Das sind vor allem die Anhebung des Mindestlohns und der Löhne im öffentlichen Dienst um 55 % bzw. 45 %. Neben der Einführung des KKM-Systems hat die Regierung auch strenge Vorschriften für Fremdwährungstransaktionen von Unternehmen durchgesetzt. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen scheint jedoch begrenzt zu sein. Im April 2023 lag die jährliche Inflationsrate der Türkei bei 43,7 %, was aufgrund von Basiseffekten einen Abwärtstrend darstellt, aber im Vergleich zu anderen Ländern immer noch sehr hoch ist.
Steigende Inflationsraten in der Türkei, zusammen mit einem Anstieg der Importpreise und Produktionskosten, stellen Haushalte und Unternehmen gleichermaßen vor große Schwierigkeiten. Haushalte mit niedrigem Einkommen können sich die Grundbedürfnisse kaum noch leisten, da die Preise in die Höhe schießen, während es für Unternehmen aufgrund unvorhersehbarer Erträge und steigender Kosten schwierig ist, zu planen und in neue Projekte zu investieren. In der Türkei wird die Inflation, wie in jedem anderen Land auch, von Faktoren beeinflusst, die sowohl mit der Nachfrage als auch mit den Kosten zusammenhängen. Daher würde eine Anhebung der Zinssätze allein das Problem nicht lösen, da auch Kostenfaktoren wie die höheren Energiepreise zu berücksichtigen sind. Dennoch ist klar, dass solange die Realzinsen tief im negativen Bereich liegen, die Lira abwerten, die importierte Inflation ansteigen und die Wirtschaft leiden wird.

Wie sieht die Zukunft aus?

Da sich Präsident Erdogan nun eine weitere Amtszeit gesichert hat, ist eine unmittelbare Änderung der Geldpolitik nach den Wahlen unwahrscheinlich. In Anbetracht der Tatsache, dass Präsident Erdogan in der Vergangenheit immer wieder seine Politik geändert hat, und angesichts des Drucks, den die schwächelnde Lira und die hohe Inflation auf die Wirtschaft ausüben, ist ein Kurswechsel zumindest jedoch möglich. Sollte die Zentralbank die Zinssätze anheben, wäre dies nicht das erste Mal, dass sie ihren Kurs abrupt ändert, da ähnliches 2018 und 2020 geschah. Der Zeitpunkt einer etwaigen Kehrtwende wird von den wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen Politik abhängen. Wenn die Lira weiter fällt, werden die Eventualverbindlichkeiten des Staates im Zusammenhang mit dem KKM und anderen potenziellen Risiken eskalieren. Daher scheint es plausibel anzunehmen, dass Anpassungen vorgenommen werden können.

Eine genaue Bewertung der Nachfrage- und Kostenfaktoren ist nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die wirksame Steuerung der Inflation und den Einsatz der Zinspolitik in der Türkei. Eine Änderung des geldpolitischen Kurses hin zu einer eher orthodoxen Politik, die auf geringe positive Realzinsen abzielt, würde zwar nicht alle wirtschaftlichen Probleme der Türkei lösen, aber sicherlich die makroökonomische Stabilität verbessern und die Grundlage für eine stabilere Wachstumsrate schaffen. Aber trotzdem hat sich die Wirtschaft als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Wenn weiterhin ausländische Gelder zur Deckung des hohen Leistungsbilanzdefizits fließen, ist es wahrscheinlich, dass das Jahr 2023 mit einer Wachstumsrate von etwa 2,6 % und einer Inflationsrate zwischen 40 und 50 % endet, was den Druck auf den Wechselkurs im Laufe des Jahres allmählich verringern wird.

[1] Siehe Reuters (2021), Factbox: Revolving door: Turkey’s last four central bank chiefs, available at https://www.reuters.com/world/middle-east/revolving-door-turkeys-last-four-central-bank-chiefs-2021-10-08/ und CNBC (2021), Turkey’s Erdogan names Nebati as new finance minister as lira skids, verfügbar unter https://www.cnbc.com/2021/12/02/turkeys-erdogan-names-nebati-as-new-finance-minister-as-lira-skids.html.
[2] Siehe DW (2022), Inflation in Turkey: Researcher won’t hide the figures Erdogan doesn’t want to see, available at https://www.france24.com/en/asia-pacific/20220622-inflation-in-turkey-researcher-won-t-hide-the-figures-erdogan-doesn-t-want-to-see, und Euronews (2022), Soaring inflation and a collapsing currency: Why is Turkey’s economy in such a mess?, verfügbar unter https://www.euronews.com/2022/11/09/everything-is-overheating-why-is-turkeys-economy-in-such-a-mess.

Autor:innen:

Meryem Gökten ist Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und Länderexpertin für die Türkei. Ihre Forschungsschwerpunkte sind makroökonomische Analysen, Fiskal- und Geldpolitik. Zuvor arbeitete sie Ökonomin in der Abteilung Finanzmärkte und Institutionen am Centre for European Policy Studies (CEPS) und als Beraterin in der Abteilung Länder- und Finanzsektoranalyse der Europäischen Investitionsbank (EIB). Meryem Gökten hat einen Master-Abschluss in Volkswirtschaft der Universität Freiburg und einen Bachelor-Abschluss der Universität Heidelberg.

Richard Grieveson ist stellvertretender Direktor am wiiw und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Diplomatischen Akademie Wien. Er ist auf die Volkswirtschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas spezialisiert, mit besonderem Schwerpunkt auf der Türkei und dem Westbalkan. Zuvor arbeitete er als Direktor im Emerging Europe Sovereigns Team bei Fitch Ratings und als Regional Manager im Europa-Team der Economist Intelligence Unit.Er verfügt über Abschlüsse der Universitäten Cambridge, Wien und Birkbeck.

Die Graphiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und absolviert derzeit sein Masterstudium in Volkswirtschaft an der WU Wien.