FIW-Spotlight: Der Außenhandel der EU mit Lateinamerika im Lichte der aktuellen handelspolitischen Schwerpunkte der EU-Kommission

In ihrer diesjährigen Rede zur Lage der Europäischen Union betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass es die außenpolitische Agenda der Europäischen Union zu überdenken gilt und die Zusammenarbeit mit demokratischen Nationen („unseren wichtigsten gleichgesinnten Partnern: unseren Freunden in den demokratischen Nation auf dieser Welt“) zu intensivieren sei (Von der Leyen, 2022). Lateinamerika spielt hierbei eine wichtige Rolle. So sollen in naher Zukunft die Abkommen mit Chile, Mexiko, neben dem mit Neuseeland ratifiziert und die Verhandlungen mit Australien und Indien vorangetrieben werden (ibid.). Konkret bedeutet dies eine Modernisierung des Handelsteils des EU – Chile Assoziierungsabkommens, eine Ratifizierung des EU –  Mexiko Assoziierungsabkommens, sowie des Freihandelsabkommens mit Neuseeland. Weiters soll in Lateinamerika, in Kooperation mit den G7, insbesondere den USA, eine umfangreiche Beteiligungsstrategie verfolgt werden (ibid.). Lateinamerika erfüllt damit zwei geopolitisch wichtige Kriterien für die Europäische Kommission: fast alle Staaten sind demokratisch regiert und es ist rohstoffreich, wie auch der Aktionsplan zur Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen illustriert.

Dieser Beitrag legt den Fokus auf die wirtschaftliche Bedeutung des EU-Handels mit Lateinamerika. In Summe exportierte die EU im Jahr 2021 Güter im Wert von fast 2,2 Billionen Euro in Drittstaaten. Nach Lateinamerika wurden davon Güter im Wert von 114,9 Milliarden Euro exportiert. Dem gegenüber standen Importe aus Lateinamerika in der Höhe von 98 Milliarden Euro, was aus EU-Sicht einen Handelsbilanzüberschuss mit Lateinamerika in der Höhe von 16,9 Milliarden Euro ergibt. Wie Grafik 1 zeigt, war die EU-Handelsbilanz mit Lateinamerika in den Jahren seit der globalen Finanzkrise (ab 2012) immer positiv.

Gemessen an den EU-Exporten spielt Lateinamerika mit einem Anteil von 5,3% 2021 somit eine vergleichsweise geringe Rolle (Grafik 2). Die mit Abstand wichtigste Zielregion für EU-Exporte waren Europäische Drittstaaten, auf welche 34,5% entfielen, gefolgt von Kanada und USA mit 20%, China mit 10,3% und Afrika mit 6,7%. Weitere wichtige Exportpartner nach Größe sind Japan mit 2,9%, Südkorea mit 2,4% und Indien mit 1,9%.

Im Vergleich zum Jahr 2011 ist der Anteil der EU-Exporte nach Lateinamerika an den gesamten EU-Exporten von 5,7% auf 5,3% sogar leicht gesunken. Während das Handelsvolumen nach Lateinamerika seit 2011 mit etwa 23,9% gewachsen ist, stiegen die gesamten EU-Exporte um 34,3% (Grafik 3). Zum Vergleich, mit einem Plus von jeweils rund 77% im gleichen Zeitraum wuchsen die Exporte besonders stark nach China und Kanada und USA.

Innerlateinamerikanisch spiegelt die Priorisierung der Europäischen Kommission die Bedeutung von Chile und Mexiko für die europäischen Exportmärkte wider. So ist Mexiko für sich betrachtet der wichtigste Handelspartner der Europäischen Union in Lateinamerika, gefolgt von Brasilien (hier in Mercosur inkludiert) und Chile (Grafik 4).

Das EU-Mercosur Assoziierungsabkommen ist zwar ausverhandelt, liegt jedoch aktuell „auf Eis“. Aus EU-Sicht standen einer Ratifizierung des Assoziierungsabkommens bisher vor allem Vorbehalte beim Umweltschutz im Wege. In Brasilien, welches die Mercosur Gruppe dominiert, wurde unter der Regierung Bolsonaro der Umweltschutz auf vielerlei Ebenen geschwächt und die Abholzungen und die weitere Erschließung des Amazonasgebietes vorangetrieben. In konkreten Zahlen bedeutet dies, dass allein im Jahr 2021 mehr als 13.000 km² Regenwald (was mehr als der Fläche Tirols entspricht) abgeholzt wurden, im Jahr 2022 sogar noch mehr. Das Abkommen würde solchen Vorbehalten beim Umweltschutz zwar Rechnung tragen, aber wie Grübler at al. (2020) schlussfolgern, kann ein Handelsabkommen „kein besseres Instrument zur Durchsetzung von Umweltverpflichtungen sein als ein Umweltvertrag“. Wobei solche Klauseln für sich nicht neu sind. So haben die Umweltklausen in Freihandelsabkommen ganz allgemein seit den 1990ern deutlich zugenommen (Meinhart, 2022).

Mit dem designierten brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio da Silva, könnte sich ein neues Zeitfenster zur Ratifizierung des Abkommens eröffnen. So hat er im Zuge seines Wahlkampfs als Ziel ausgegeben, binnen sechs Monaten nach seiner Wiederwahl, dieses abschließen, aber auch Teile des Abkommens nachverhandeln, zu wollen. Beim COP27 Gipfel wie auch schon davor betonte er, dass die Bekämpfung der Abholzungen im Amazons höchste Priorität haben werden. Seine Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht unterstreicht der deutliche Rückgang an Abholzungen unter seiner Präsidentschaft 2003 – 2010. Mit Blick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024, wo während des Wahlkampfs ein Abschluss eher unwahrscheinlich erscheint, öffnet sich somit 2023 ein Zeitfenster für beide Seiten. Die EU-Außenhandelspolitik ist hier sicher in einem Zielkonflikt aus geo-, und handelspolitischen Interessen und den selbst gesteckten Zielen des Green Deals. Lateinamerika ist hierfür exemplarisch, mit der großen wirtschaftlichen Bedeutung von Agrar- und Rohstoffexporten auf der einen und dem EU-Rohstoffbedarf auf der anderen Seite. So entfallen aktuell fast 41% der lateinamerikanischen Exporte auf Rohstoffe wie seltene Erden und auf landwirtschaftliche Güter und weitere 17,8% (als Teil der Sachgüterproduktion) auf die Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln (Grafik 5). Europäische Exporte nach Lateinamerika sind hingegen zu mehr als 95% Sachgüter. Die wichtigsten Sektoren aus EU-Sicht sind hierbei der Maschinen- und Fahrzeugbau sowie chemische und pharmazeutische Erzeugnisse.

Lateinamerika ist somit für die Versorgung der Europäischen Union mit kritischen Rohstoffen von Relevanz. So rechnet die Europäische Kommission damit, dass sich der EU-Bedarf an seltenen Erden, derzeit von China dominiert, bis 2030 verfünffachen, bei Lithium sogar verachtzehnfachen wird. Laut dem 2020 veröffentlichten Aktionsplan zur Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen bezieht die Europäische Union seltene Erden fast ausschließlich (98%) aus China (Europäische Kommission, 2020). Bei dem für die Batterieproduktion besonders bedeutenden Lithium ist hingegen Chile der weltweit größte Produzent und der wichtigste Lieferant für die Europäische Union (ibid.) Mexiko ist beispielsweise der größte nicht-asiatische Verarbeiter von Wismut und Brasilien, ebenso unter den wichtigsten Erzeugern mehrerer kritischen Rohstoffe. Im Rennen mit China spielt Lateinamerika dementsprechend bereits jetzt eine wichtige Rolle, dessen Bedeutung für die EU – vor allem auch im Zusammenhang mit den derzeitigen geopolitischen Änderungen – zunehmen wird.

Quellenverzeichnis:

Europäische Kommission. (2020). Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den europäischen Rat, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen: Einen Pfad hin zu größerer Sicherheit und Nachhaltigkeit abstecken. COM(2020) 474 final, Brüssel.

Grübler, J., Reiter, O. und Sinabell, F. (2020). EU und Mercosur – Auswirkungen eines Abbaus von Handelsschranken und Aspekte der Nachhaltigkeit. WIFO Monatsberichte 11/2020.

Meinhart, B. (2022). Greening Trade? Environmental Provisions in Trade Agreements. FIW- Policy Brief, (55).

Von der Leyen, U. (2022). Lage der Union. Rede. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/api/files/document/print/de/speech_22_5493/SPEECH_22_5493_DE.pdf

Autor: Mag. Bernhard Moshammer, M.A. (wiiw)

Bernhard Moshammer ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Sein Forschungsschwerpunkt ist Europäische Wirtschaftspolitik. Zuvor war er im österreichischen Bundeskanzleramt für EU-Angelegenheiten, uA. für den österreichischen EU-Ratsvorsitz tätig. Er hat ein Diplomstudium in Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien absolviert und einen M.A. in European Interdisciplinary Studies vom College of Europe, Natolin Campus in Warschau, Polen.